Leben im Mittelalter by Großbongardt Annette; Saltzwedel Johannes
Autor:Großbongardt, Annette; Saltzwedel, Johannes
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Deutsche Verlags-Anstalt
veröffentlicht: 2014-09-07T16:00:00+00:00
Blut und schwarze Galle
Häufig schadeten die Ärzte ihren Patienten, anstatt sie zu heilen. Doch Könner ihres Fachs verblüfften mit virtuosen Operationskünsten.
Von Frank Thadeusz
Der Mann ist zwischen 40 und 50 Jahre alt, so genau lässt sich das nicht sagen. Dass er überhaupt so alt geworden ist, war ein Geschenk des Himmels, doch jetzt steht es schlecht um ihn: Ein Ritter hat ihm mit einem Schwert den Schädel eingeschlagen.
Auf einer Seite seines Kopfes klafft eine tiefe, sechs Zentimeter lange Öffnung. Unter den Bedingungen der modernen Unfallchirurgie hätte er möglicherweise eine Überlebenschance, aber wir befinden uns im 12. Jahrhundert – keine gute Zeit, um sich mit einem beängstigend großen Loch im Kopf in Behandlung zu begeben.
Schon geringere Malaisen kommen damals einem Todesurteil gleich. Und wer nicht durch seine Verletzung oder seine Krankheit dahingerafft wird, den bringen die Ärzte mit obskuren Behandlungsmethoden ins Grab.
Die Heiler des Mittelalters scheren sich meist wenig um die anatomischen Gegebenheiten des Menschen. Ohnehin haben sie von Anatomie nur sehr begrenzte Kenntnisse. Dass es etwa einen Blutkreislauf gibt, davon hat bis dahin kein Medicus des Abendlandes gehört. Noch immer halten viele Ärzte die autoritative Ansicht des großen Doktors aus der Antike, Galen, für plausibel: Demnach wütet in der linken Herzkammer ein Feuer, das zur Blutreinigung brennt.
Auch sind die Mediziner nach antiken Vorbildern überzeugt davon, dass das Wohlbefinden des Menschen über Körpersäfte gesteuert wird. Gerät das Gleichgewicht von Blut, Schleim, schwarzer und gelber Galle in Unordnung, so die herrschende Lehrmeinung, dann brechen Krankheiten über den Organismus herein.
Die aus heutiger Sicht absurd erscheinende Säftegläubigkeit erklärt zum Beispiel, wie Äbtissin Hildegard von Bingen um 1150 auf die verwegene Idee kommen konnte, ein tödliches Leiden wie die Lepra mit einer Mixtur aus Schwalbenkot und Klettenkraut kurieren zu wollen.
Etliche Gläubige und gelehrte Zeitgenossen stellen den Sinn etwaiger Behandlungen und Anwendungen gleich ganz in Frage – Krankheit gilt häufig als gerechtes Gottesurteil. Das von Mönchen geschriebene »Lorscher Arzneibuch« aus dem 8. Jahrhundert fasst den Zeitgeist treffend zusammen: »Denn aus drei Ursachen wird der Leib von Krankheit befallen: aus einer Sünde, aus einer Bewährungsprobe und aus einer Leidensanfälligkeit. Nur dieser letzteren kann menschliche Heilkunst abhelfen.«
Bedenklich genug, dass die Kirche den Kranken einredete, sie seien an ihrem Unglück selbst schuld. Mit dem 1215 verabschiedeten Dogma »Ecclesia abhorret a sanguine« (»Die Kirche verabscheut das Blut«) zementierten die Kleriker zudem eine folgenreiche Spaltung in der Krankenfürsorge: Der Körper des Menschen sollte unter allen Umständen unversehrt bleiben. Mediziner und Mönche durften sich fortan nur noch der inneren Medizin ohne Skalpell widmen.
So geriet der Beruf des Chirurgen in die Hände von Männern ohne jegliche wissenschaftliche Ausbildung, die das Sägen und Meißeln am menschlichen Körper als reinen Handwerksberuf auffassten. Aber auch wer sonst an ernsten Gebrechen litt, konnte in den Hospitälern des Mittelalters kaum auf Heilung hoffen.
Hatte jemand das Glück, einen Platz in den Häusern mit zumeist kaum mehr als 20 Betten zu ergattern, kam er in den Genuss einer exklusiven, aber wenig Besserung versprechenden Behandlung: Glaubensfeste Brüder und Schwestern schüttelten die Betten auf und servierten Fleisch und sogar Wein, der gemäß der
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